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Alge des Jahres 2021: Schlauchalge Vaucheria velutina verändert das Wattenmeer

Die sich rasch ausbreitende Alge Vaucheria velutina häuft über sandigem Wattboden große Mengen Schlick an (linke Seite). Am Horizont liegt die Insel Sylt. Foto: Karsten Reise

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Weit draußen im Sylter Watt, wo sonst Seehunde auf Sandbänken dösen, steckte der Wattforscher Karsten Reise vom Alfred-Wegener-Institut dieses Jahr unverhofft in weichem Schlick fest. Hier entdeckte er im Sommer erstmals Schlauchalgen, die über weite Flächen verbreitet waren und sonst nur am Ufer wachsen. In den Vaucheria-Algen verfängt sich der Schlick, wodurch die Gänge der Wattwürmer verstopft werden. Somit verändert sich das Weltnaturerbe Wattenmeer. Wie Nataliya Rybalka von der Universität Göttingen durch molekulargenetische Analysen herausfand, stammen die gelbgrünen Vaucheria velutina Algen von nur einem Mutter-Organismus ab. Die von diesem Klon besiedelten Areale dehnten sich schnell auf einer Fläche von mehr als 280 Fußballfeldern aus. Aufgrund ihrer plötzlichen Dominanz und den absehbaren ökologischen Folgen haben Algenforscher der Deutschen Botanischen Gesellschaft Vaucheria velutina zur Alge des Jahres 2021 gewählt.

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Im Juni dieses Jahres fiel Reise das erste Mal ein großes Feld mit Schlauchalgen auf den Sandbänken bei der Insel Sylt auf. „In meinen fast 50 Jahren als Wattforscher, habe ich so eine rasante Ausbreitung einer neuartigen Alge noch nicht erlebt“, sagt der ehemalige Leiter der Wattenmeerstation Sylt des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI). „Bei Sylt hat sie schon riesige Areale erobert, die sehr weit draußen im Watt bis zum Horizont reichen, und wo nur selten ein Kurgast hinkommt.“ Mit einem GPS-Gerät erfasste Reise im September die Ausdehnung und ermittelte drei Flächen von je 96, 10 und 74 Hektar Größe in der Blidselbucht, auf dem Raulingsand und dem Buttersand. Algen im Watt  müssen hart im Nehmen sein, das Auftauchen bei Ebbe vertragen sowie schwankenden Salzgehalt, Hitze und Frost aushalten können.

Wie Vaucheria das Wattenmeer verändert

Ob sich der Algenrasen bei Sylt nach der Wachstumspause im Winter kommendes Jahr weiter vergrößert und wie er das Ökosystem Wattenmeer verändern wird, bleibt abzuwarten. Dieses Jahr konnte Reise bereits feststellen, dass der Klon weite Sandwatten in Schlickwatt umwandelt. Feine Sedimentpartikel, die mit der Flut eingeschwemmt werden, bleiben zwischen den dicht an dicht aus dem Boden ragenden Algenfäden hängen. Reise hat ausgerechnet, dass im Sylter Watt schon 20-mal mehr Algenfäden wachsen als es Sterne in der Milchstraße gibt. Im Verlauf nur eines Sommers schichtete sich ein weiches Schlickpolster auf, das bis zu zwanzig Zentimeter höher als das umgebende Sandwatt ist. Unter der Oberfläche ist der weiche Schlick tiefschwarz und dünstet faulig riechenden Schwefelwasserstoff aus.

Wie der Klon erkannt wurde

Zunächst wollte Reise herausfinden, um welche Schlauchalgenart es sich bei den sechs bis zehn Zentimeter langen Individuen handelt. In Nataliya Rybalka fand er eine Expertin, die als experimentelle Phykologin an der Sammlung von Algenkulturen der Universität Göttingen forscht. Rybalka analysierte einen kurzen charakteristischen Abschnitt im Genom der Sylter Algen-Proben. Dieser  ermöglicht eine eindeutige Zuordnung zu einzelnen Arten in dieser Algengruppe. Wie die Forscherin herausfand, gehören die vor Sylt gesammelten Proben alle zur Art Vaucheria velutina. Der von ihr untersuchte DNA-Abschnitt des rbcL genannten Gens enthält den Bauplan für ein Protein, das im Chloroplasten vorkommt. In diesem Abschnitt unterscheiden sich alle Vaucheria-Proben aus dem Sylter Watt von denen aus nah gelegenen Salzwiesen. Daher gehen die Forschenden im Moment davon aus, dass die Algenfäden im Watt von derselben Mutteralge abstammen. Das konnte Rybalka nur herausfinden, da sie im Sonderforschungsbereich Taxon-OMICS neue Algenarten klassifiziert sowie die Vielfalt, Verbreitungsmuster und Verwandtschaftsbeziehungen der Algengruppe der Xanthophyceae („gelbgrüne Algen“) analysiert, zu der auch Vaucheria velutina zählt. Dazu hat sie in ihrem Projekt neue Analyse-Methoden etabliert.

Woher der Klon kam

Schlauchalgen der Gruppe der Vaucheria zählen zu den frühesten Lebensformen unseres Planeten. Abdrücke fanden Geologen in bis zu einer Milliarde Jahre altem Gestein. Das erstaunliche an Schlauchalgen ist deren Potential sich bei optimalen Bedingungen explosionsartig zu vermehren. Die Vermehrung erfolgt sowohl über abgeschnürte Stücke des Schlauches als auch durch Sporen, die ungeschlechtlich gebildet werden. Beide können mit den Gezeitenströmungen leicht über mehrere Kilometer treiben, was die Entstehung der drei Algenrasen bei Sylt erklären könnte. Reise vermutet, dass der rätselhafte Klon mit importierten Pazifischen Austern eingeschleppt wurde, die in Netzbeuteln im Sylter Wattenmeer für den Verzehr „gemästet“ werden, nachdem die einheimische Auster im vorigen Jahrhundert ausgerottet wurde.

Wie sich Vaucheria vermehrt

Wenn Vaucheria wächst, schnürt sie keine neuen Zellen ab. Vielmehr verlängert sich die Zelle zu einem haardünnen Schlauch, der mehrere Zentimeter erreicht. Nach oben ist sie kaum verzweigt, im Boden entsteht jedoch ein wurzelartiges Geflecht, das ihr zur Verankerung dient. Sogar aus Bruchstücken wachsen ganze, neue Schläuche heran. Vaucheria-Algen können sich zwar auch über Sex fortpflanzen, jedoch geschieht dies selten und meist nur unter Stressbedingungen. Im Labor lösen Algenforscher das durch Milieuverschlechterung gezielt aus, denn nur anhand der Form ihrer geschlechtlichen Vermehrungsorgane lassen sich die einzelnen Vaucheria-Arten im Mikroskop unterscheiden.

Vom Sandwatt zum Schlickwatt

Ob und wie Vaucheria velutina das Wattenmeer langfristig verändern wird, gilt es weiter zu untersuchen. Bisher konnte der Zoologe Reise noch keine Algenfresser wie etwa weidende Schnecken oder überwinternde Gänse beobachten, die der Ausbreitung von Vaucheria velutina im Wattenmeer spürbar Einhalt gebieten könnten. Daher wird sich der Prozess der Schlickanhäufung im Sandwatt voraussichtlich fortsetzen. Das wird besonders den Wattwürmern zusetzen. Wattwanderer kennen die zahllosen Sandschnüre, aufgerollt wie Spaghetti. Die werden von den Würmern nach oben befördert, nachdem sie an Sandkörnern haftende Mikroorganismen verdaut haben. Die Gesamtheit aller Wattwürmer schichtet jährlich so viel Sand im Wattenmeer um, dass sich damit die Stadtfläche von Hamburg 15 Meter hoch bedecken ließe. Alles Leben im Wattboden ist daher davon betroffen, wenn der zwischen Vaucheria hängenbleibende Schlick die Gänge der Wattwürmer verstopft. Das kann sogar Auswirkungen auf die Fähigkeit des Wattenmeeres haben, sich im Klimawandel dem schnell steigenden Meeresspiegel anzupassen. „Derzeit verändert sich das Weltnaturerbe Wattenmeer unumkehrbar, direkt vor unseren Augen und das durch eine eigentlich sehr kleine Alge“, resümiert Reise.

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